Friday, October 30, 2009

Nichts vermissen


Das ist so eine Sache mit dem Nichts. Wenn ich das Nichts nicht um mich habe, vermisse ich es. Wie kann man denn Nichts vermissen, denken Sie vielleicht, aber ich schwöre Ihnen, das ist ganz leicht. Wüste macht süchtig – je länger ich mich in der leeren Landschaft aufhalte, desto weniger will ich sie missen. Und wenn ich denn mal auf Reisen gehe, frage ich mich jedes Mal mehr, warum genau ich das Nichts überhaupt verlasse. Ich bin schon soweit, dass ich das Gefühl hab, ich komme mir abhanden, wenn ich mich lange nicht im Nichts aufhalte. Der Begriff Wüste wurde denn auch im 18. und im 19. Jahrhundert ganz anders verstanden – Wüste beschrieb nur eine menschenleere Gegend. Es konnte sich auch um Landstriche wie Berge, Wälder oder gar Inseln handeln. Goethe bezeichnete gar eine Heide- bzw. eine Moorlandschaft als Wüste. Auch das französische und englische Wort désert/desert meinte das gleiche, obschon diese Begriffe noch unschärfer waren als das deutsche Wüste, schliesslich waren gerade zu dieser Zeit diese Landstriche nicht von Menschen verlassen, sondern noch gar nicht besiedelt. Auch die lateinische Wortschöpfung ist also der Wüste nicht richtig Herr geworden. Sie definiert sie als negatives Gegenbild zur Zivilisation und der Begriff beschreibt nicht, was die Wüste ist, sondern was sie nicht ist und nicht hat – fruchtbaren Boden und demzufolge Menschen. Dass mit Wüste karge, unfruchtbare Trockenlandschaften gemeint sind, ist eine relativ neue Sprachentwicklung und macht die Sache nicht besser, weil sie die Lebensfeindlichkeit der Wüste betont. Mich bringt gerade die Kargheit und das Undefinierte dieser weiten Landschaft immer wieder zum Kern meines Seins. Deshalb denn auch mein etymologischer Aufschrei über das deutsche Wort Wüste – ein phänomenaler Fehlgriff. Es evoziert, dass die Wüste wüst sei, und das geht ja nun gar nicht. Etwas mehr Präzision, wenn ich bitten darf.

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