Sunday, July 12, 2009

Geschichten erzählen


Bessie ist wieder mal zu Besuch – wie fast jedes Jahr. Bessie gehört zum Stamm der Navajo-Indianer und wohnt weit draussen im Reservat ausserhalb Gallup, New Mexico. Über die Jahre ist sie eine Freundin geworden. Sie kommt gern für ein paar Wochen zu Besuch. Dass sie eine Freundin in Kalifornien hat, die sie in die Ferien holt, bringt ihr Respekt ein im Reservat und innerhalb ihres grossen Clans. Sogar ihre Grosskinder sind neidisch, sagt sie fröhlich. Bessie ist innerhalb weniger Jahre gebrechlich geworden. Neben andern Problemen hat sie den Grauen Star und braucht eine Operation. Trotz allem ist sie guter Laune wie immer. Was sie am liebsten macht dieser Tage – Geschichten erzählen und Geschichten hören. Selber lesen kann sie nicht mehr. Sie erzählt, wie sie als Sechzehnjährige für zwei Jahre nach Utah geschickt worden ist in eine von Weissen geleitete Schule und wie den Navajo-Kindern dort der Mund mit Seife ausgewaschen wurde, wenn sie ihre eigene Sprache sprachen anstatt Englisch. Ich rechne nach. Das war ironischerweise nach dem Zweiten Weltkrieg, also nachdem die Sprache der Navajos in Südostasien zum unpenetrierbaren Code und von kriegsentscheidendem Vorteil geworden war. Und sie erzählt, wie sie nach dem Tod ihres ersten Mannes für eine Weile bei seinem Stamm, den Tesuque Indianern in der Nähe von Santa Fe gewohnt hat. Und wie sie von dort mit ihren damals zwei Kindern abgehauen ist, als die Tesuques sie als Navajo-Frau hätten zwingen wollen, an ihren traditionellen Tänzen teilzunehmen. Sie will, dass ich ihr meinen Roman vorlese, was ich gerne tue. Wenn meine Stimme heiser wird, weil ich grad eine Grippe hinter mir hab, wartet sie geduldig und schaut in die Weite der Mojave. Trink Tee, sagt sie, nur damit sie mir ein weiteres Kapitel abluchsen kann. Und wenn ich mich dann überreden lasse, strahlt sie glücklich. Storytelling – the old Navajo way, sagt sie, I like it.

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